Im Jahr 2000 lebten etwa 2,7 bis 3 Millionen Muslim*innen in Deutschland. Eine junge Generation war herangewachsen, deren einziger Lebensmittelpunkt in Deutschland liegt. Islamische Phänomene wie Moscheebauten, das Gebetsritual oder das Kopftuch sind vor allem in westdeutschen Städten immer sichtbarer geworden. Dadurch rückten Muslim*innen mit ihrer Religion zunehmend ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung – nach den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA häufig in negativer Weise. Dieses Kapitel wirft Licht auf die zunehmende gesellschaftliche Verwurzelung und Sichtbarkeit des Islams um die Jahrhundertwende in Deutschland und fragt:
• Wie haben sich Muslim*innen mit ihrer Religion gesellschaftlich verankert?
• Wie wurde der Islam öffentlich thematisiert?
• Welche Schritte haben Kirchen und Politik zum Dialog mit Muslim*innen unternommen?
Nach Schätzungen aus einer Studie von Dr. Thomas Lemmen aus dem Jahr 2000 lebten nahezu drei Millionen Muslim*innen vor allem in den westdeutschen Bundesländern. Der größte Anteil, etwa zwei Millionen, stammte damals aus der Türkei. Etwa 90 % gehörten der sunnitischen Hauptströmung an.
01
Eröffnung der Merkez-Moschee, Duisburg, 2008, Foto: Norbert Enker
Muslim*innen haben keine ‚Kirche‘ und sind nicht kirchenähnlich über entsprechende Aufnahmerituale und Mitgliedschaften organisiert. In Deutschland wie auch in anderen Ländern Europas haben sie ihre religiösen Gemeinschaften überwiegend als Migrantenselbstorganisationen vor Ort über Eigeninitiative und Finanzierung von Laien etabliert. Dabei haben sie sich oftmals an der Kultur, den religiösen Lehren oder Institutionen aus den Herkunftsländern orientiert und sich mit ihren Ortsvereinen ab den 1970er-Jahren allmählich zu größeren bundesweiten Dachverbänden zusammengeschlossen, um die religiösen und sozialen Belange der Mitglieder angesichts erhöhter Bedarfe dauerhaft zu decken. Gelegentlich kam es im Falle einzelner Organisationen hierbei zu Interventionen aus einzelnen Herkunftsstaaten von Muslim*innen, wie der Türkei oder dem Iran beziehungsweise zu transnationalen Verbindungen hin zu Bewegungen oder Akteuren im Ausland.
02
Gökhan (links) und sein Vetter im Jugendzimmer, Hamburg, 2004, Foto: Anne Schönharting
Auch privat lebten die meisten Muslim*innen den Islam nach Maßgabe der in den Heimatregionen bekannten Weise und vermittelten diesen an ihre Kinder. Nur ein Teil von ihnen ist Mitglied oder aktiver Teil einer religiösen Gemeinschaft
Überall dort, wo Muslim*innen in größerer Zahl leben, werden sie mit ihrer Religion wahrnehmbar: Zum Ende des vergangenen Jahrhunderts hin wurden an den Schulen und den Arbeitsstätten ihre religiösen Traditionen zunehmend zum Thema, und immer mehr berichteten die Medien über den Islam und Muslim*innen.
03
Islamunterricht an der Rudolf-Wissel-Grundschule in Berlin, 2006, Foto: Dawin Meckel
Zugleich erreichten die provisorisch eingerichteten Gebetsstätten an vielen Orten ihre Kapazitätsgrenze und weiteten sich räumlich aus. Projekte zum Bau größerer Moscheen wurden in verschiedenen Kommunen zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion – und nicht selten zum Streitfaktor .
04
Festgebet zum Ende des Ramadans, Bilal-Moschee, Aachen, 2012
Muslim*innen hatten mitsamt ihres Glaubens vielerorts längst Wurzeln geschlagen. An den Gedanken, Teil der deutschen Gesellschaft geworden zu sein und Verantwortung mitzutragen, mussten sich sowohl sie selbst als auch weitere Bevölkerungsteile aus ihrer gesellschaftlichen Umgebung erst gewöhnen. Die Anerkennung und Gleichstellung islamischer Religion und deren Gemeinschaften wurde zu einem wichtigen Anliegen besonders von jungen Muslim*innen und Vertreter*innen islamischer Verbände.
Wenngleich der Umgang mit Religion, die Religiosität und die konfessionelle Ausrichtung individuell bei Muslim*innen unterschiedlich sind, so spielt bei einem Großteil von ihnen ihr Glaube doch eine wichtige Rolle und wirkt sich auf die private Lebensführung aus.
08
Bei der Familie Ammouri, Bremen, 2009, Foto: Anne Schönharting
Besonderen Aufschluss über die Religiosität von Muslim*innen in Deutschland nach der Jahrtausendwende gibt unter anderem eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2008 (Stichprobe: 2007): Muslim*innen weisen der Studie nach hohe individuelle Religiositätswerte auf, 90 % der befragten Muslim*innen in Deutschland konnten dem religiösen Spektrum zugeordnet werden, 41 % davon sogar dem hochreligiösen.
09
Lerngruppe in der Zentrum-Moschee, Hamburg, 2006, Foto: Anne Schönharting
Im Vergleich dazu ließen sich 70 % aus der Gesamtbevölkerung über die Untersuchung und Auswertung des Religionsmonitors als religiös einstufen, also verhältnismäßig weniger als bei der Teilgruppe der Muslim*innen zu beobachten. Besonders das persönliche Gebet scheint für Muslim*innen wichtiger Bestandteil der privaten Alltagspraxis zu sein, stärker bei den Frauen als bei den Männern.
Hingegen hat die gemeinschaftliche Praxis, wie der Moscheebesuch zum Freitagsgebet, nur für jeden Dritten eine hohe Bedeutung. Hier wurden Unterschiede je nach Konfession festgestellt:
Mit nur neun Prozent spielt das gemeinschaftliche Erleben des Glaubens für Alevit*innen kaum eine Rolle, wohingegen den Sunniten dieses zu 42 % wichtig ist.
10
Vor dem Freitagsgebet, Zentrum-Moschee, Hamburg, 2004, Foto: Anne Schönharting
Außerdem besteht ein Unterschied zwischen den Geschlechtern: für 50 % der befragten Männer hat die Gemeinschaftspraxis einen hohen Stellenwert, wohingegen dies nur für 21 % der Musliminnen gilt.
11
Imam Ercan Aksu in der Fatih-Moschee in Essen, 2006, Foto: Murat Türemiş
Auch einzelne Gebote und Verbote werden von einer Vielzahl von Muslim*innen eingehalten, wie das religiöse Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch (von 86 %). Ebenso erhält die Religion bei wichtigen Lebensfragen eine besondere Bedeutung, etwa bei Heirat, Geburt oder Tod (66 %).
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Imam Ercan Aksu in der Fatih-Moschee in Essen, 2006, Foto: Murat Türemiş
Gering ist hingegen der Einfluss der Religion auf die politische Einstellung: Nur für 16 % hat der Islam eine wichtige Bedeutung für die persönliche politische Meinungsbildung.
Wichtig für viele Muslim*innen in Deutschland ist die Vermittlung der eigenen religiösen Werte in der Familie. Für die Hälfte der Befragten wird die Kindererziehung von der eigenen Religiosität maßgeblich geprägt.
13
Beschneidungszeremonie, Duisburg, 1998, Foto: Brigitte Krämer
An öffentlichen Orten, wo verschiedene Bevölkerungsteile zusammenkommen, wie in Krankenhäusern, in Gefängnissen und besonders in Kindergärten und Schulen, fällt eine solch ausgeprägte Religiosität einer religiösen Minderheit auf. Damit konnotierte Verhaltensweisen werfen Fragen auf.
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Die Familie Celik vor Ihrem Feinkostgeschäft Feinkost Knobi in Berlin Kreuzberg, 1990, Foto: Ergun Çağatay
Einerseits erwarteten Muslim*innen Rücksicht auf ihre religiösen Anliegen, andererseits fehlt(e) es vielen unter ihnen an der Fähigkeit, diese angemessen zu äußern oder zu erklären. Oft trifft dieses Unvermögen bei der anderen Seite auf Vorurteile oder ein Unverständnis für manche Vorstellungen und Verhaltensweisen. Mit diesen ihnen fremden Verhaltensnormen sehen sich plötzlich Erzieher*innen, Lehrer*innen oder das Krankenhauspersonal in ihrer Arbeit konfrontiert. Hinzu kommt eine Verquickung von kulturellen und religiösen Handlungsweisen und Äußerungen.
Daraus ergaben sich konfliktträchtige Situationen, die für alle Beteiligten eine Herausforderung darstellten.
15
Der türkischstämmige Mitinhaber der Firma Fruta beim Verkauf in Berlin Tempelhof, 1990, Foto: Ergun Çağatay
Von allen islamisch-religiösen Phänomenen haben besonders zwei emotional aufgeladene Aspekte öffentliche Debatten evoziert und sind als Themen und Symbole zur Mobilisierung radikaler islamfeindlicher Bewegungen verwendet worden: Der Moscheebau in deutschen Städten und Kommunen sowie die Kopfbedeckung muslimischer Frauen. Diese Themenkomplexe bilden seit den 1990er-Jahren Ankerpunkte für den Streit und damit die Aushandlung von Normen und Rechten im öffentlichen Raum sowie für Diskussionen zu Zugehörigkeiten und kollektiven Identitäten. Oft verfangen sich diesbezügliche Debatten grundsätzlich in Zweifeln an der Vereinbarkeit von Islam, deutscher Rechtsordnung und Gesellschaft.
21
Einblicke in den Islam-Pavillon des Zentralrates der Muslime auf der Expo Hannover, 2000
Dabei gingen Moscheebauvorhaben mit einem gewandelten Verhältnis der Muslim*innen zu ihrer deutschen Umgebung einher, in der sie fortan als selbstverständlicher Teil des lokalen Lebens neben anderen Religionsgemeinschaften bestehen wollten. Angesichts wachsender islamischer Gemeinden und der dauerhaften Einrichtung von Muslim*innen in Deutschland verband sich dieser Integrationswille mit dem Wunsch nach würdigen und platzreichen Stätten für ihre Gottesdienste und sozialen Aktivitäten.
Mit der steigenden Anzahl an repräsentativen Moscheen wurden Muslim*innen mit ihrem Glauben in ihrer Umgebung stärker sichtbar. Wie rasant sich dieser Wandel vollzog, wird an den folgenden Zahlen deutlich:
Auf etwa 2500 wurde im Jahr 2008 die Anzahl der islamischen und alevitischen Gebetsstätten geschätzt, worunter 160 als größere Moscheen erkennbar waren und über 180 sich in Planung oder im Bau befanden. Diese hohe Zahl reflektiert den Wendepunkt zu jener Zeit in der Entwicklung muslimischen Lebens weg von einer unscheinbaren Existenz am Rande hin zu einem sichtbaren Bestand als Teil einer pluralen Gesellschaft.
22
Feierlichkeiten zu Ashura in der Imam Ali-Moschee in Hamburg, 1995
23
Die Zentrum-Moschee bekommt ein neues Minarett, Hamburg, 2009, Foto: Marcus Brandt
Ein solch rasanter Wandel geht mit gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen einher, die sich im Spannungsfeld zwischen Akzeptanz und Anpassung einerseits und Ablehnung andererseits vollziehen. Entsprechend lösten Moscheebauvorhaben in verschiedenen Kommunen oftmals hitzige Debatten aus, in denen häufig Ressentiments seitens der Nachbarschaft ans Tageslicht gelangten. Je nachdem, ob und wie die öffentlichen Diskussionen organisiert und reguliert wurden und wie die allgemeine Stimmung vor Ort gelagert war, konnten manchmal befriedende Lösungen gefunden werden, manchmal aber auch nicht.
24
Sheikh Nazim des Naqshbandiyya Sufi-Ordens zu Besuch in Freiburg, 1994
Ein weiterer Aufhänger für kontroverse Debatten rund um die gesellschaftliche Zuträglichkeit islamischer Präsenz ist das Kopftuch. In den 1990er-Jahren begann die religiös inspirierte Bekleidung muslimischer Frauen in deutschen Medien zunehmende Aufmerksamkeit zu erhalten. Diese wuchs mit der Berichterstattung über die Lehrerin Fereshta Ludin in Baden-Württemberg, die 1998 dagegen klagte, dass sie aufgrund ihrer religiösen Kopfbedeckung nicht in den dortigen Schuldienst aufgenommen wurde. Ihr Fall ging bis an das Bundesverfassungsgericht und bewegte die Gemüter.
25
Gelsenkirchen, 2007, Foto: Anette Jonak
Er steht exemplarisch dafür, wie zu jener Zeit Muslim*innen, hier Frauen, von einem beruflichen Integrationswillen ohne Aufgabe ihrer islamischen Identität und Praxis geleitet wurden. Mit dem Bildungsaufstieg und dem Anspruch jüngerer Muslim*innen, mitsamt ihrer Glaubenspraxis, zu der für manche eben auch die Einhaltung koranisch manifestierter Bekleidungsgebote gehört, gleichberechtigt am gesellschaftlichen und beruflichen Leben teilhaben zu wollen, tauchten – für viele unerwartet – religiöse Frauen in verschiedenen beruflichen Bereichen auf. Und zwar nicht mehr nur – wie früher allgemein akzeptiert – in den niederen Sektoren der einfachen Anlernberufe wie der Fabrikarbeit. Häufig berichteten sie von Ablehnung, Diffamierung und Feindseligkeiten an Schulen, Arbeitsstätten oder auf der Straße. Dass das Kopftuch zunehmend zum Politikum und zu einem Dauerbrenner in den Medien wurde, machte ihnen weder den Berufsweg noch das Alltagsleben einfacher. Dazu haben auch einzelne islamische Staaten oder Akteur*innen beigetragen, die seit den 80er-Jahren Bestandteile des Islams politisiert haben, unter anderem durch die Durchsetzung islamischer Bekleidungsvorschriften für Frauen nach der iranischen Revolution, und diese zu Symbolen der eigenen Wirkmacht gemacht haben.
26
Fereshta Ludin im Bundeverfassungsgericht in Karlsruhe. Die Lehrerin ging gerichtlich gegen ein pauschales Kopftuchverbot an Schulen vor, 2003.
In jedem Fall sind hierdurch Frauen zu Geschädigten des politischen Missbrauchs der Religion geworden. In Deutschland wurden über den juristischen Streit zum Tragen religiöser Symbole im Öffentlichen Dienst in Verbindung mit weiteren Debatten an ihnen quasi verschiedene Streitfragen zu Islam, Integration, „Kampf der Kulturen“ (prominent damals Huntingtons Thesen) und (damals) Fundamentalismus pauschal abgearbeitet.
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Kinder aus der Nachbarschaft werfen während des Freitagsgebets einen Blick in die Bilal-Moschee Aachen, 2001, Foto: Hacky Hagemeyer
Begründet wurde die weit um sich greifende Ablehnung mit Argumenten, die mit der Bekleidungsart von Musliminnen rundherum eine Unterdrückung und Ungleichbehandlung der Frau verbanden, dem Kopftuch eine politische, demokratiefeindliche Symbolträchtigkeit zuschrieben oder es als kulturelles Zeichen mangelnder Integrationsbereitschaft werteten.
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Dozentin Haciab Durramaoglu zeigt einer jungen Erzieherin während eines Seminars, wie nach das Kopftuch getragen werden kann, Hamminkeln, 1994
Über die junge muslimische Generation, die zwischen den im migrantisch geprägten Elternhaus vermittelten religiösen Traditionen einerseits und der gesellschaftlichen Realität im Schulalltag andererseits im Prozess ihrer Entwicklung und Identitätsfindung balancieren muss, vollzogen sich seit den 1990er-Jahren Prozesse der Verschmelzung von religiösem sowie deutsch geprägtem Habitus.
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Treffen der Muslimischen Jugend im Haus des Islam, Ende der 1990er-Jahre, Lützelbach
Gelegentlich finden sich besonders unter Jugendlichen, die Diskriminierungserfahrungen und -familiärem Druck ausgesetzt sind, außerdem Protestverhalten und -formationen. Seit den 1990er-Jahren haben muslimische Jugendliche ein weites Spektrum an Jugendgruppen und -szenen innerhalb wie auch außerhalb von Moscheegemeinden ausgebildet. Besonders junge Frauen haben sich in geschlechtergemischten Gruppen außerhalb der Moscheegemeinden aktiv gezeigt und nahmen – anders als in Moscheegemeinden – häufig Leitungsfunktionen ein. In bundesweiten oder lokalen islamischen Jugendgruppen zur religiösen Bildung und Vergemeinschaftung in Verbindung mit Freizeitgestaltung tauschen sich junge Muslim*innen gemeinsam aus und entwickeln eigene religiös geprägte deutsche Jugendkulturen.
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Treffen der Muslimischen Jugend im Haus des Islam, Ende der 1990er-Jahre, Lützelbach
Darüber hinaus war besonders in den 2000er-Jahren unter einem Teil von ihnen ein Engagement in radikal-islamistischen Gruppierungen zu beobachten, wie innerhalb der salafitischen Szene, die deutschsprachig niedrigschwellig junge Muslim*innen für sich gewinnen konnte.
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Jugendliche der Hip-Hop-Gruppe 36 Boys in Berlin-Kreuzberg, 1990, Foto: Ergun Çağatay
Bis in die 1990er-Jahre hinein wurden Muslim*innen beziehungsweise deren Religionsgemeinschaften als Teil der Außen- und Ausländerpolitik behandelt – unter Hervorhebung ihrer nationalen und der weitgehenden Ausklammerung ihrer religiösen Zugehörigkeit. Dies lag nicht an der schwachen religiösen Organisationsstruktur oder daran, dass es von islamischen Glaubensgemeinschaften keine Vorstöße in Richtung Politik gegeben hätte: Seit Ende der 1970er-Jahre ist von Islamverbänden unter anderem das Anliegen an entsprechende staatliche Stellen herangetragen worden, als Religionsgemeinschaft einen islamischen Religionsunterricht nach Artikel 7 des Grundgesetzes (GG) an öffentlichen Schulen ausrichten zu wollen. Dem damals vorherrschenden politischen Verständnis entsprechend ist dies laut Matthias König (2004) seinerzeit unter anderem mit der Begründung abgewiesen worden, die Mitgliederstruktur sei von Ausländer*innen dominiert, sodass verfassungsmäßige Kriterien der Existenzdauer und Stabilität einer Anerkennung als Religionsgesellschaft nach dem GG nicht erfüllt sein könnten. Insgesamt verfüge der Islam nicht über eine Repräsentationsinstanz, die angemessen sei, so die damalige Argumentation.
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Badr Mohammed (ehemaliger Bundestagsabgeordneter, SPD), der ehemalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Axel Ayyub Köhler, bei der ersten Islamkonferenz Deutschlands, September 2006, Foto: Andreas Schoelzel
Erst zum Ende der 1990er-Jahre hin habe sich sodann sukzessive die Herausbildung eines neuen religionspolitischen Handlungsfeldes eingestellt. Staatlicherseits ist das Interesse für muslimische Gruppierungen besonders über zwei Betrachtungsweisen angestoßen worden: Erstens sind sie von politischer Seite hinsichtlich ihres Gefahrenpotentials diskutiert worden. Damit wurden sie zunehmend zum Gegenstand des Verfassungsschutzes und der Sicherheitspolitik Zweitens wurden sie hinsichtlich ihrer Anpassungsbereitschaft an die Gesellschaft beziehungsweise ihres Segregationspotentials hinterfragt und zunehmend zum Gegenstand der Integrationspolitik.
Zu den ersten politischen Annäherungsschritten dieser Jahre zählte die Einladung einiger islamischer Dachverbände zu einer Anhörung im Deutschen Bundestag im Jahre 1999, darunter der Zentralrat der Muslime in Deutschland(ZMD) und die Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB). Knapp ein Jahr danach stellte die CDU/CSU-Fraktion eine große Anfrage an den Bundestag zur Rolle des Islams in Deutschland (Bundesregierung 2000), was die geschärfte Aufmerksamkeit der damaligen Politik für den Islam als innenpolitisches Thema reflektiert.
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Auftakt der Qualifizierungs- und Exkursionsreihe für Imame in der Hansestadt Hamburger Rathaus 2018 Foto: Mehdi Aroui
Der Verfassungsschutz gehörte vorher schon zu den ersten Behörden, die umfassend Daten zu Gruppierungen von Muslim*innen erhoben und zusammenstellten (Bundesamt für Verfassungsschutz 1994). Seit 1993 wurden zudem die Kompetenzen der Ausländer- und später Integrationsbeauftragten gestärkt, die sich Ende des Jahrzehnts unter anderem religiösen Belangen von Muslim*innen im Rahmen integrationspolitischer Überlegungen widmeten. Dazu wurde beispielsweise von der damaligen Integrationsbeauftragten der Bundesregierung 1999 ein öffentliches Fachgespräch zu Muslim*innen unter dem Titel Integration mit ‚R‘ (wie Religion) initiiert und dokumentiert.
Aufgrund der leitenden sicherheits- und integrationspolitischen Interessenlage erfolgte in den 2000er-Jahren sodann die Annäherung des Staates an von ihm ausgewählte Repräsentanten der muslimischen Bevölkerung im Rahmen diverser Dialogforen auf Landes- und Bundesebene.
Zu diesen politischen Dialogforen luden staatliche Instanzen des Bundes (Bundesinnenministerium) und der Länder (je nach Bundesland mit Integrationsfragen betraute Ressorts-) Vertreter*innen etablierter religiöser Gemeinschaften sowie weitere muslimische Gesprächspartner*innen für die muslimische Seite ein.
Die Deutsche Islamkonferenz (DIK) ist das symbolträchtigste und zentrale institutionalisierte Dialogforum auf der Ebene des Bundes. Vom Bundesinnenministerium 2006 gegründet, besteht es bis heute.
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Bildnachweis
01 Eröffnung Merkez, Foto: Norbert Enker
02 Gökhan und Vetter, Foto: Anne Schönharting, Ostkrez
03 Islamunterricht, Foto: Dawin Meckel, Ostkreuz
04 Festgebet, Foto: Fotograf unbekannt, Privatarchiv El Attar
05 Konferenz, Foto: Fotograf unbekannt, Archiv des Islamischen Zentrums Hamburg
06 Jahresversammkung, Foto: Fotograf unbekannt, Fotoarchiv Ahmadiyya Muslim Jamaat – Abteilung Geschichte
07 Merkez, Foto: Jochen Tack, epd-Bild
08 Familie Ammouri, Foto: Anne Schönharting, Ostkreuz
09 Lerngruppe, Foto: Anne Schönharting, Ostkreuz
10 Zentrum Moschee, Foto: Anne Schönharting, Ostkreuz
11 Imam Aksu, Foto: Murat Türemiş, Agentur Laif
12 Mihrab, Foto: Murat Türemiş, Agentur Laif
13 Beschneidung, Foto: Brigitte Krämer
14 Feonkost Knobi, Foto: Ergun Çağatay, /Fotoarchiv Ruhr Museum/Stadtmuseum Berlin/Stiftung Historische Museen Hamburg
15 Fruta, Foto: Ergun Çağatay, /Fotoarchiv Ruhr Museum/Stadtmuseum Berlin/Stiftung Historische Museen Hamburg
17 Zeitungsartikel, Die Tagespost, Christlich-Islamische Begegnungs- und Dokumentationsstelle (CIBEDO)
18 Ausschnitt Zeitungsartikel, Der Sonntag (14.12.2003) & F.A.Z. (14.06.1993), Christlich-Islamische Begegnungs- und Dokumentationsstelle (CIBEDO)
19 Ausschnitt Zeitunsgartikel, Evangelische Sonntagszeitung (28.06.92) & Begleitschrift Katholikentag 1982, Christlich-Islamische Begegnungs- und Dokumentationsstelle (CIBEDO)
20 Ausschnitt Zeitunsgartikel, Kirchenzeitung Erzbistum Köln (10.02.1982),Christlich-Islamische Begegnungs- und Dokumentationsstelle (CIBEDO)
21 Expo, Foto: Fotograf Unbekannt, IISW-Sammlung & Nadeem Collections
22 Ashura, Archiv des Islamischen Zentrums Hamburg
23 Minarett, Foto Marcus Brandt, dpa picture-alliance
24 Nazim, Foto: Sheikh Mohamad Nazim al-Haqqani an-Nakshibendi – saltanat.org/ sufi-zentrum-rabbaniyya.de
25 Gelsenkirchen, Foto: Anette Jonak
26 Ferestha Ludin, Foto: Imagopress
27 Bilal, Foto: Hacky Hagemeyer, epd-bild
28 Hamminkeln, Zeitungssauschnitt, Zeitung der Akademie Klausenhof, Christlich-Islamische Begegnungs- und Dokumentationsstelle (CIBEDO)
29 Bahnhof München, Foto: Stephan Rumpf, dpa picture alliance
30 At Tawhid, Foto Kay Nietfeld, dpa picture alliance
32 Gedenkfeier, Fotograf unbekannt, Foto: Wikimedia (Creative Commons)
33 Sindelfingen, Foto Bernd Weissbrod, dpa picture alliance
34 Spurensicherung, Foto: Polizei Sittensen
35 Demo, Foto: Wikimedia (Creative Commons)
36 Lützelbach, Foto: Haus des Islam
37 Muslimische Jugend, Foto: Haus des Islam
38 Thirtysix Boys, Foto: Ergun Çağatay, /Fotoarchiv Ruhr Museum/Stadtmuseum Berlin/Stiftung Historische Museen Hamburg
39 Islamkonferenz, Foto: Andreas Schoelzel, epd-bild
40 Rathaus, Foto: Mehdi Aroui
Danksagungen
Ein besonderer Dank gebührt den Fotograf*innen, die ihre Bilder diesem Projekt zur Verfügung gestellt haben. Zu nennen sind Anette Jonak, Anne Schönharting, Brigitte Krämer, Dawin Meckel, Ergun Çağatay, Murat Türemiş und Norbert Enker. Zu danken ist auch den verschiedenen Einzelpersonen, Moscheegemeinden oder Institutionen, die ihre Archive für das Projekt geöffnet haben, sowie den Mitarbeiter*innen der verschiedenen Sammlungen, die die hier gezeigten Fotografien aufbewahren und zugänglich machen, wie zum Beispiel der Christlich-Islamischen Begegnungs- und Dokumentationsstelle (CIBEDO), dem Internationalen Islamischen Stiftungswerk-Bildung und Kultur, dem Ruhrmuseum oder der Agentur Ostkreuz.
Vielen Dank auch an Halima Krausen und Bacem Dziri für die spannenden Interview-Gespräche. Außerdem geht ein herzliches Dankeschön an Prof. Dr. Kai Hafez und Dr. Thomas Lemmen für ihre wertvolle Expertise.
2021 © moinundsalam.de
Im Jahr 2000 lebten etwa 2,7 bis 3 Millionen Muslim*innen in Deutschland. Eine junge Generation war herangewachsen, deren einziger Lebensmittelpunkt in Deutschland liegt. Islamische Phänomene wie Moscheebauten, das Gebetsritual oder das Kopftuch sind vor allem in westdeutschen Städten immer sichtbarer geworden. Dadurch rückten Muslim*innen mit ihrer Religion zunehmend ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung – nach den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA häufig in negativer Weise. Dieses Kapitel wirft Licht auf die zunehmende gesellschaftliche Verwurzelung und Sichtbarkeit des Islams um die Jahrhundertwende in Deutschland und fragt:
• Wie haben sich Muslim*innen mit ihrer Religion gesellschaftlich verankert?
• Wie wurde der Islam öffentlich thematisiert?
• Welche Schritte haben Kirchen und Politik zum Dialog mit Muslim*innen unternommen?
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Eröffnung der Merkez-Moschee, Duisburg, 2008, Foto: Norbert Enker
Nach Schätzungen aus einer Studie von Dr. Thomas Lemmen aus dem Jahr 2000 lebten nahezu drei Millionen Muslim*innen vor allem in den westdeutschen Bundesländern. Der größte Anteil, etwa zwei Millionen, stammte damals aus der Türkei. Etwa 90 % gehörten der sunnitischen Hauptströmung an.
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Gökhan (links) und sein Vetter im Jugendzimmer, Hamburg, 2004, Foto: Anne Schönharting
Muslim*innen haben keine ‚Kirche‘ und sind nicht kirchenähnlich über entsprechende Aufnahmerituale und Mitgliedschaften organisiert. In Deutschland wie auch in anderen Ländern Europas haben sie ihre religiösen Gemeinschaften überwiegend als Migrantenselbstorganisationen vor Ort über Eigeninitiative und Finanzierung von Laien etabliert. Dabei haben sie sich oftmals an der Kultur, den religiösen Lehren oder Institutionen aus den Herkunftsländern orientiert und sich mit ihren Ortsvereinen ab den 1970er-Jahren allmählich zu größeren bundesweiten Dachverbänden zusammengeschlossen, um die religiösen und sozialen Belange der Mitglieder angesichts erhöhter Bedarfe dauerhaft zu decken. Gelegentlich kam es im Falle einzelner Organisationen hierbei zu Interventionen aus einzelnen Herkunftsstaaten von Muslim*innen, wie der Türkei oder dem Iran beziehungsweise zu transnationalen Verbindungen hin zu Bewegungen oder Akteuren im Ausland.
Auch privat lebten die meisten Muslim*innen den Islam nach Maßgabe der in den Heimatregionen bekannten Weise und vermittelten diesen an ihre Kinder. Nur ein Teil von ihnen ist Mitglied oder aktiver Teil einer religiösen Gemeinschaft
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Islamunterricht an der Rudolf-Wissel-Grundschule in Berlin, 2006, Foto: Dawin Meckel
Überall dort, wo Muslim*innen in größerer Zahl leben, werden sie mit ihrer Religion wahrnehmbar: Zum Ende des vergangenen Jahrhunderts hin wurden an den Schulen und den Arbeitsstätten ihre religiösen Traditionen zunehmend zum Thema, und immer mehr berichteten die Medien über den Islam und Muslim*innen.
Zugleich erreichten die provisorisch eingerichteten Gebetsstätten an vielen Orten ihre Kapazitätsgrenze und weiteten sich räumlich aus. Projekte zum Bau größerer Moscheen wurden in verschiedenen Kommunen zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion – und nicht selten zum Streitfaktor .
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Festgebet zum Ende des Ramadans, Bilal-Moschee, Aachen, 2012
Muslim*innen hatten mitsamt ihres Glaubens vielerorts längst Wurzeln geschlagen. An den Gedanken, Teil der deutschen Gesellschaft geworden zu sein und Verantwortung mitzutragen, mussten sich sowohl sie selbst als auch weitere Bevölkerungsteile aus ihrer gesellschaftlichen Umgebung erst gewöhnen. Die Anerkennung und Gleichstellung islamischer Religion und deren Gemeinschaften wurde zu einem wichtigen Anliegen besonders von jungen Muslim*innen und Vertreter*innen islamischer Verbände.
Neben den vielen muslimischen Arbeitsmigranten*innen hat es engagierte deutsche Konvertit*innen gegeben, die neben den ethnisch geprägten Gebetsstätten von Immigranten-Gruppen deutsch-muslimische Vereinigungen gegründet haben. Einzelne islamische Zentren sind zudem aus dem Zusammenwirken von Muslim*innen verschiedener Herkunft und sozialer Milieus heraus entstanden, unter denen es zahlreiche Akademiker*innen gegeben hat. Später hat sich das muslimische Leben noch weiter ausdifferenziert durch die vielen in Deutschland geborenen und sozialisierten Nachkommen dieser Immigranten.
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Bei der Familie Ammouri, Bremen, 2009, Foto: Anne Schönharting
Wenngleich der Umgang mit Religion, die Religiosität und die konfessionelle Ausrichtung individuell bei Muslim*innen unterschiedlich sind, so spielt bei einem Großteil von ihnen ihr Glaube doch eine wichtige Rolle und wirkt sich auf die private Lebensführung aus.
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Lerngruppe in der Zentrum-Moschee, Hamburg, 2006, Foto: Anne Schönharting
Besonderen Aufschluss über die Religiosität von Muslim*innen in Deutschland nach der Jahrtausendwende gibt unter anderem eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2008 (Stichprobe: 2007): Muslim*innen weisen der Studie nach hohe individuelle Religiositätswerte auf, 90 % der befragten Muslim*innen in Deutschland konnten dem religiösen Spektrum zugeordnet werden, 41 % davon sogar dem hochreligiösen.
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Vor dem Freitagsgebet, Zentrum-Moschee, Hamburg, 2004, Foto: Anne Schönharting
Im Vergleich dazu ließen sich 70 % aus der Gesamtbevölkerung über die Untersuchung und Auswertung des Religionsmonitors als religiös einstufen, also verhältnismäßig weniger als bei der Teilgruppe der Muslim*innen zu beobachten. Besonders das persönliche Gebet scheint für Muslim*innen wichtiger Bestandteil der privaten Alltagspraxis zu sein, stärker bei den Frauen als bei den Männern.
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Imam Ercan Aksu in der Fatih-Moschee in Essen, 2006, Foto: Murat Türemiş
Hingegen hat die gemeinschaftliche Praxis, wie der Moscheebesuch zum Freitagsgebet, nur für jeden Dritten eine hohe Bedeutung. Hier wurden Unterschiede je nach Konfession festgestellt:
Mit nur neun Prozent spielt das gemeinschaftliche Erleben des Glaubens für Alevit*innen kaum eine Rolle, wohingegen den Sunniten dieses zu 42 % wichtig ist.
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Beschneidungszeremonie, Duisburg, 1998, Foto: Brigitte Krämer
Außerdem besteht ein Unterschied zwischen den Geschlechtern: für 50 % der befragten Männer hat die Gemeinschaftspraxis einen hohen Stellenwert, wohingegen dies nur für 21 % der Musliminnen gilt.
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Der türkischstämmige Mitinhaber der Firma Fruta beim Verkauf in Berlin Tempelhof, 1990, Foto: Ergun Çağatay
Von allen islamisch-religiösen Phänomenen haben besonders zwei emotional aufgeladene Aspekte öffentliche Debatten evoziert und sind als Themen und Symbole zur Mobilisierung radikaler islamfeindlicher Bewegungen verwendet worden: Der Moscheebau in deutschen Städten und Kommunen sowie die Kopfbedeckung muslimischer Frauen. Diese Themenkomplexe bilden seit den 1990er-Jahren Ankerpunkte für den Streit und damit die Aushandlung von Normen und Rechten im öffentlichen Raum sowie für Diskussionen zu Zugehörigkeiten und kollektiven Identitäten. Oft verfangen sich diesbezügliche Debatten grundsätzlich in Zweifeln an der Vereinbarkeit von Islam, deutscher Rechtsordnung und Gesellschaft.
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Einblicke in den Islam-Pavillon des Zentralrates der Muslime auf der Expo Hannover, 2000
Dabei gingen Moscheebauvorhaben mit einem gewandelten Verhältnis der Muslim*innen zu ihrer deutschen Umgebung einher, in der sie fortan als selbstverständlicher Teil des lokalen Lebens neben anderen Religionsgemeinschaften bestehen wollten. Angesichts wachsender islamischer Gemeinden und der dauerhaften Einrichtung von Muslim*innen in Deutschland verband sich dieser Integrationswille mit dem Wunsch nach würdigen und platzreichen Stätten für ihre Gottesdienste und sozialen Aktivitäten.
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Feierlichkeiten zu Ashura in der Imam Ali-Moschee in Hamburg, 1995
Mit der steigenden Anzahl an repräsentativen Moscheen wurden Muslim*innen mit ihrem Glauben in ihrer Umgebung stärker sichtbar. Wie rasant sich dieser Wandel vollzog, wird an den folgenden Zahlen deutlich:
Auf etwa 2500 wurde im Jahr 2008 die Anzahl der islamischen und alevitischen Gebetsstätten geschätzt, worunter 160 als größere Moscheen erkennbar waren und über 180 sich in Planung oder im Bau befanden. Diese hohe Zahl reflektiert den Wendepunkt zu jener Zeit in der Entwicklung muslimischen Lebens weg von einer unscheinbaren Existenz am Rande hin zu einem sichtbaren Bestand als Teil einer pluralen Gesellschaft.
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Die Zentrum-Moschee bekommt ein neues Minarett, Hamburg, 2009, Foto: Marcus Brandt
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Sheikh Nazim des Naqshbandiyya Sufi-Ordens zu Besuch in Freiburg, 1994
Ein solch rasanter Wandel geht mit gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen einher, die sich im Spannungsfeld zwischen Akzeptanz und Anpassung einerseits und Ablehnung andererseits vollziehen. Entsprechend lösten Moscheebauvorhaben in verschiedenen Kommunen oftmals hitzige Debatten aus, in denen häufig Ressentiments seitens der Nachbarschaft ans Tageslicht gelangten. Je nachdem, ob und wie die öffentlichen Diskussionen organisiert und reguliert wurden und wie die allgemeine Stimmung vor Ort gelagert war, konnten manchmal befriedende Lösungen gefunden werden, manchmal aber auch nicht.
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Gelsenkirchen, 2007, Foto: Anette Jonak
Ein weiterer Aufhänger für kontroverse Debatten rund um die gesellschaftliche Zuträglichkeit islamischer Präsenz ist das Kopftuch. In den 1990er-Jahren begann die religiös inspirierte Bekleidung muslimischer Frauen in deutschen Medien zunehmende Aufmerksamkeit zu erhalten. Diese wuchs mit der Berichterstattung über die Lehrerin Fereshta Ludin in Baden-Württemberg, die 1998 dagegen klagte, dass sie aufgrund ihrer religiösen Kopfbedeckung nicht in den dortigen Schuldienst aufgenommen wurde. Ihr Fall ging bis an das Bundesverfassungsgericht und bewegte die Gemüter.
Er steht exemplarisch dafür, wie zu jener Zeit Muslim*innen, hier Frauen, von einem beruflichen Integrationswillen ohne Aufgabe ihrer islamischen Identität und Praxis geleitet wurden. Mit dem Bildungsaufstieg und dem Anspruch jüngerer Muslim*innen, mitsamt ihrer Glaubenspraxis, zu der für manche eben auch die Einhaltung koranisch manifestierter Bekleidungsgebote gehört, gleichberechtigt am gesellschaftlichen und beruflichen Leben teilhaben zu wollen, tauchten – für viele unerwartet – religiöse Frauen in verschiedenen beruflichen Bereichen auf. Und zwar nicht mehr nur – wie früher allgemein akzeptiert – in den niederen Sektoren der einfachen Anlernberufe wie der Fabrikarbeit. Häufig berichteten sie von Ablehnung, Diffamierung und Feindseligkeiten an Schulen, Arbeitsstätten oder auf der Straße. Dass das Kopftuch zunehmend zum Politikum und zu einem Dauerbrenner in den Medien wurde, machte ihnen weder den Berufsweg noch das Alltagsleben einfacher. Dazu haben auch einzelne islamische Staaten oder Akteur*innen beigetragen, die seit den 80er-Jahren Bestandteile des Islams politisiert haben, unter anderem durch die Durchsetzung islamischer Bekleidungsvorschriften für Frauen nach der iranischen Revolution, und diese zu Symbolen der eigenen Wirkmacht gemacht haben.
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Fereshta Ludin im Bundeverfassungsgericht in Karlsruhe. Die Lehrerin ging gerichtlich gegen ein pauschales Kopftuchverbot an Schulen vor, 2003.
In jedem Fall sind hierdurch Frauen zu Geschädigten des politischen Missbrauchs der Religion geworden. In Deutschland wurden über den juristischen Streit zum Tragen religiöser Symbole im Öffentlichen Dienst in Verbindung mit weiteren Debatten an ihnen quasi verschiedene Streitfragen zu Islam, Integration, „Kampf der Kulturen“ (prominent damals Huntingtons Thesen) und (damals) Fundamentalismus pauschal abgearbeitet.
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Kinder aus der Nachbarschaft werfen während des Freitagsgebets einen Blick in die Bilal-Moschee Aachen, 2001, Foto: Hacky Hagemeyer
Begründet wurde die weit um sich greifende Ablehnung mit Argumenten, die mit der Bekleidungsart von Musliminnen rundherum eine Unterdrückung und Ungleichbehandlung der Frau verbanden, dem Kopftuch eine politische, demokratiefeindliche Symbolträchtigkeit zuschrieben oder es als kulturelles Zeichen mangelnder Integrationsbereitschaft werteten.
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Dozentin Haciab Durramaoglu zeigt einer jungen Erzieherin während eines Seminars, wie nach das Kopftuch getragen werden kann, Hamminkeln, 1994
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Treffen der Muslimischen Jugend im Haus des Islam, Ende der 1990er-Jahre, Lützelbach
Über die junge muslimische Generation, die zwischen den im migrantisch geprägten Elternhaus vermittelten religiösen Traditionen einerseits und der gesellschaftlichen Realität im Schulalltag andererseits im Prozess ihrer Entwicklung und Identitätsfindung balancieren muss, vollzogen sich seit den 1990er-Jahren Prozesse der Verschmelzung von religiösem sowie deutsch geprägtem Habitus.
Gelegentlich finden sich besonders unter Jugendlichen, die Diskriminierungserfahrungen und -familiärem Druck ausgesetzt sind, außerdem Protestverhalten und -formationen. Seit den 1990er-Jahren haben muslimische Jugendliche ein weites Spektrum an Jugendgruppen und -szenen innerhalb wie auch außerhalb von Moscheegemeinden ausgebildet. Besonders junge Frauen haben sich in geschlechtergemischten Gruppen außerhalb der Moscheegemeinden aktiv gezeigt und nahmen – anders als in Moscheegemeinden – häufig Leitungsfunktionen ein. In bundesweiten oder lokalen islamischen Jugendgruppen zur religiösen Bildung und Vergemeinschaftung in Verbindung mit Freizeitgestaltung tauschen sich junge Muslim*innen gemeinsam aus und entwickeln eigene religiös geprägte deutsche Jugendkulturen.
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Treffen der Muslimischen Jugend im Haus des Islam, Ende der 1990er-Jahre, Lützelbach
Darüber hinaus war besonders in den 2000er-Jahren unter einem Teil von ihnen ein Engagement in radikal-islamistischen Gruppierungen zu beobachten, wie innerhalb der salafitischen Szene, die deutschsprachig niedrigschwellig junge Muslim*innen für sich gewinnen konnte.
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Jugendliche der Hip-Hop-Gruppe 36 Boys in Berlin-Kreuzberg, 1990, Foto: Ergun Çağatay
Bis in die 1990er-Jahre hinein wurden Muslim*innen beziehungsweise deren Religionsgemeinschaften als Teil der Außen- und Ausländerpolitik behandelt – unter Hervorhebung ihrer nationalen und der weitgehenden Ausklammerung ihrer religiösen Zugehörigkeit. Dies lag nicht an der schwachen religiösen Organisationsstruktur oder daran, dass es von islamischen Glaubensgemeinschaften keine Vorstöße in Richtung Politik gegeben hätte: Seit Ende der 1970er-Jahre ist von Islamverbänden unter anderem das Anliegen an entsprechende staatliche Stellen herangetragen worden, als Religionsgemeinschaft einen islamischen Religionsunterricht nach Artikel 7 des Grundgesetzes (GG) an öffentlichen Schulen ausrichten zu wollen. Dem damals vorherrschenden politischen Verständnis entsprechend ist dies laut Matthias König (2004) seinerzeit unter anderem mit der Begründung abgewiesen worden, die Mitgliederstruktur sei von Ausländer*innen dominiert, sodass verfassungsmäßige Kriterien der Existenzdauer und Stabilität einer Anerkennung als Religionsgesellschaft nach dem GG nicht erfüllt sein könnten. Insgesamt verfüge der Islam nicht über eine Repräsentationsinstanz, die angemessen sei, so die damalige Argumentation.
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Badr Mohammed (ehemaliger Bundestagsabgeordneter, SPD), der ehemalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Axel Ayyub Köhler, bei der ersten Islamkonferenz Deutschlands, September 2006, Foto: Andreas Schoelzel
Zu den ersten politischen Annäherungsschritten dieser Jahre zählte die Einladung einiger islamischer Dachverbände zu einer Anhörung im Deutschen Bundestag im Jahre 1999, darunter der Zentralrat der Muslime in Deutschland(ZMD) und die Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB). Knapp ein Jahr danach stellte die CDU/CSU-Fraktion eine große Anfrage an den Bundestag zur Rolle des Islams in Deutschland (Bundesregierung 2000), was die geschärfte Aufmerksamkeit der damaligen Politik für den Islam als innenpolitisches Thema reflektiert.
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Auftakt der Qualifizierungs- und Exkursionsreihe für Imame in der Hansestadt Hamburger Rathaus 2018 Foto: Mehdi Aroui
Der Verfassungsschutz gehörte vorher schon zu den ersten Behörden, die umfassend Daten zu Gruppierungen von Muslim*innen erhoben und zusammenstellten (Bundesamt für Verfassungsschutz 1994). Seit 1993 wurden zudem die Kompetenzen der Ausländer- und später Integrationsbeauftragten gestärkt, die sich Ende des Jahrzehnts unter anderem religiösen Belangen von Muslim*innen im Rahmen integrationspolitischer Überlegungen widmeten. Dazu wurde beispielsweise von der damaligen Integrationsbeauftragten der Bundesregierung 1999 ein öffentliches Fachgespräch zu Muslim*innen unter dem Titel Integration mit ‚R‘ (wie Religion) initiiert und dokumentiert.
Aufgrund der leitenden sicherheits- und integrationspolitischen Interessenlage erfolgte in den 2000er-Jahren sodann die Annäherung des Staates an von ihm ausgewählte Repräsentanten der muslimischen Bevölkerung im Rahmen diverser Dialogforen auf Landes- und Bundesebene.
Zu diesen politischen Dialogforen luden staatliche Instanzen des Bundes (Bundesinnenministerium) und der Länder (je nach Bundesland mit Integrationsfragen betraute Ressorts-) Vertreter*innen etablierter religiöser Gemeinschaften sowie weitere muslimische Gesprächspartner*innen für die muslimische Seite ein.
Die Deutsche Islamkonferenz (DIK) ist das symbolträchtigste und zentrale institutionalisierte Dialogforum auf der Ebene des Bundes. Vom Bundesinnenministerium 2006 gegründet, besteht es bis heute.
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Bildnachweis
01 Eröffnung Merkez, Foto: Norbert Enker
02 Gökhan und Vetter, Foto: Anne Schönharting, Ostkrez
03 Islamunterricht, Foto: Dawin Meckel, Ostkreuz
04 Festgebet, Foto: Fotograf unbekannt, Privatarchiv El Attar
05 Konferenz, Foto: Fotograf unbekannt, Archiv des Islamischen Zentrums Hamburg
06 Jahresversammkung, Foto: Fotograf unbekannt, Fotoarchiv Ahmadiyya Muslim Jamaat – Abteilung Geschichte
07 Merkez, Foto: Jochen Tack, epd-Bild
08 Familie Ammouri, Foto: Anne Schönharting, Ostkreuz
09 Lerngruppe, Foto: Anne Schönharting, Ostkreuz
10 Zentrum Moschee, Foto: Anne Schönharting, Ostkreuz
11 Imam Aksu, Foto: Murat Türemiş, Agentur Laif
12 Mihrab, Foto: Murat Türemiş, Agentur Laif
13 Beschneidung, Foto: Brigitte Krämer
14 Feonkost Knobi, Foto: Ergun Çağatay, /Fotoarchiv Ruhr Museum/Stadtmuseum Berlin/Stiftung Historische Museen Hamburg
15 Fruta, Foto: Ergun Çağatay, /Fotoarchiv Ruhr Museum/Stadtmuseum Berlin/Stiftung Historische Museen Hamburg
17 Zeitungsartikel, Die Tagespost, Christlich-Islamische Begegnungs- und Dokumentationsstelle (CIBEDO)
18 Ausschnitt Zeitungsartikel, Der Sonntag (14.12.2003) & F.A.Z. (14.06.1993), Christlich-Islamische Begegnungs- und Dokumentationsstelle (CIBEDO)
19 Ausschnitt Zeitunsgartikel, Evangelische Sonntagszeitung (28.06.92) & Begleitschrift Katholikentag 1982, Christlich-Islamische Begegnungs- und Dokumentationsstelle (CIBEDO)
20 Ausschnitt Zeitunsgartikel, Kirchenzeitung Erzbistum Köln (10.02.1982),Christlich-Islamische Begegnungs- und Dokumentationsstelle (CIBEDO)
21 Expo, Foto: Fotograf Unbekannt, IISW-Sammlung & Nadeem Collections
22 Ashura, Archiv des Islamischen Zentrums Hamburg
23 Minarett, Foto Marcus Brandt, dpa picture-alliance
24 Nazim, Foto: Sheikh Mohamad Nazim al-Haqqani an-Nakshibendi – saltanat.org/ sufi-zentrum-rabbaniyya.de
25 Gelsenkirchen, Foto: Anette Jonak
26 Ferestha Ludin, Foto: Imagopress
27 Bilal, Foto: Hacky Hagemeyer, epd-bild
28 Hamminkeln, Zeitungssauschnitt, Zeitung der Akademie Klausenhof, Christlich-Islamische Begegnungs- und Dokumentationsstelle (CIBEDO)
29 Bahnhof München, Foto: Stephan Rumpf, dpa picture alliance
30 At Tawhid, Foto Kay Nietfeld, dpa picture alliance
32 Gedenkfeier, Fotograf unbekannt, Foto: Wikimedia (Creative Commons)
33 Sindelfingen, Foto Bernd Weissbrod, dpa picture alliance
34 Spurensicherung, Foto: Polizei Sittensen
35 Demo, Foto: Wikimedia (Creative Commons)
36 Lützelbach, Foto: Haus des Islam
37 Muslimische Jugend, Foto: Haus des Islam
38 Thirtysix Boys, Foto: Ergun Çağatay, /Fotoarchiv Ruhr Museum/Stadtmuseum Berlin/Stiftung Historische Museen Hamburg
39 Islamkonferenz, Foto: Andreas Schoelzel, epd-bild
40 Rathaus, Foto: Mehdi Aroui
Danksagungen
Ein besonderer Dank gebührt den Vertreter*innen der Moscheegemeinden, allen voran Aiman El Attar (Bilal-Moschee Aachen), Mohammad Ale Hosseini (Islamisches Zentrum Hamburg), Mohammad Luqman und Ilyas Munir (Ahmadiyya Muslim Jamaat), die ihre Archive für das Projekt geöffnet haben, sowie den Mitarbeiter*innen der verschiedenen Sammlungen, die die hier gezeigten Fotografien aufbewahren und zugänglich machen. Ein herzlicher Dank sei auch an Thomas Ugé gerichtet, der die Geschichte von Abdullah Weisser erstmals aufbereitet hat und dem die Bildschätze aus dem Leben Weissers zu verdanken sind. Darüber hinaus danke ich Karin Scherrer und Joachim Weisser, die geholfen haben, die Geschichte ihres Vaters Abdullah Weisser zu rekonstruieren. Ein herzliches Dankeschön geht ebenfalls an Wolfgang Schröck-Schmidt für den Zugang zur Schwetzinger Moschee.
Vielen Dank auch an Halima Krausen und Bacem Dziri für die spannenden Interview-Gespräche. Außerdem geht ein herzliches Dankeschön an Prof. Dr. Kai Hafez und Dr. Thomas Lemmen für ihre wertvolle Expertise.
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