Um die Geschichte von Islam und Muslimen*innen in Deutschland hinreichend abzubilden, muss der Blick viel weiter zurück gerichtet werden als hin zur Zeit der Gastarbeiterimmigration der 1960er Jahre.
Historische Rückblende
Lange Zeit herrschte hierzulande die Vorstellung vor, dass Muslim*innen erst mit der Zeit der Gastarbeiterimmigration der 1960er-Jahre nach Deutschland gelangt seien. Entsprechend war die Geschichte des Islams in Deutschland daher einige Zeit überwiegend mit der türkischen Immigration verknüpft. Doch die zunehmende Beheimatung der muslimischen Bevölkerung in Deutschland und das alltägliche Zusammenleben haben den Weg zu neuen Wahrnehmungsperspektiven auf Islam und Muslim*innen in der Geschichte und Gegenwart Deutschlands bereitet. Mit derart geweiteter Perspektive sind außerdem zunehmend wissenschaftliche Erkenntnisse zu Islam und Muslimen*innen gewonnen worden. Sie finden mittlerweile verstärkten Eingang in die deutsche Öffentlichkeit.
Der Beginn nachhaltiger Wechselbezüge und unmittelbarer Kontakte zwischen Menschen auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands und aus muslimisch geprägten Herrschaftsregionen lässt sich nicht mit einem konkreten Datum versehen. Historisch nachgewiesene Beispiele für erste Begegnungen finden sich bereits für das Frühmittelalter.
Wann beginnt die Geschichte des Islams und von Muslim*innen in Deutschland?
Die Geschichte des Islams in deutschen Herrschaftsgebieten beginnt später als die in Südeuropa. Spuren intensiver Interaktionen in den südlichen Nachbarräumen gingen jedoch nicht unbemerkt an Deutschland vorbei – wie etwa die Eroberung des Westgotenreichs im 8. Jahrhundert oder später die Belagerung Wiens durch die Türken im 17. Jahrhundert. Zwar sind durchaus einzelne direkte Berührungspunkte zwischen Deutschen und Muslimen für das frühe Mittelalter, insbesondere für die Zeit unter Karl den Großen, erfasst und historisch dokumentiert. Dennoch sind im Vergleich zu Italien, Spanien oder Frankreich nachhaltige und unmittelbare Begegnungen und Austauschbeziehungen erst vergleichsweise spät erwachsen.
Anstatt nach einem definitiven Anfangspunkt für eine Historie des Islams in Deutschland zu suchen und diesen fest markieren zu wollen, wird hier über Bild- und Audiomaterialien auf vielfältige Spuren verwiesen. Zusammengenommen dokumentieren sie historische Verflechtungen, wie feindliche Zusammenstöße, friedliche Begegnungen oder wechselseitige Einflüsse auf verschiedenen Ebenen und belegen damit eine vielförmige und reichhaltige deutsch-muslimische Vergangenheit.
52
Die Schlacht um Wien, gemalt von einem anonymen Künstler, ausgestellt im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien.
Was sind wesentliche Komponenten einer Geschichte des Islams in Deutschland?
Eine Spurensuche lässt sich grundsätzlich über zwei verschiedene Betrachtungsfelder vollziehen.
Die Geschichte des Islams in Deutschland und Europa wird in den Geschichtsbüchern besonders im Kontext kriegerischer Expansionsbewegungen muslimischer Herrscher nach Europa erzählt.
Konzentriert man sich in der Nacherzählung der Geschichte abstrakt auf den Islam als einer Weltreligion, so lassen sich sehr früh Einflüsse des Islams in Deutschland nachweisen und zeitlich datieren: etwa über wissenschaftliche Bestände, künstlerische Artefakte, architektonische Bauten oder poetische Schriften und sprachliche Begriffe. Ein anderer Zugang zur Erzählung einer muslimischen Geschichte bildet sich aus, sofern menschliche Interaktionen in den Vordergrund gerückt werden, wie länderüberschreitende Wechselbezüge, etwa in Form von Diplomatie, Kriegen und Reisen, oder aber sofern die muslimische Präsenz in Deutschland konkret nachgezeichnet wird. Eine umfassende Geschichtserzählung setzt sich aus beiden Zugängen zusammen, wobei sich die Frage stellt, welche Momente und Aspekte in der jeweiligen Erzählung wie gewichtet werden.
Ein hervorgehobenes Ereignis bildet in den Geschichtsbüchern insbesondere die Schlacht bei Tours und Poitiers, 732 n.Ch., zwischen Franken und muslimischen Sarazenen. Sie gilt als Entscheidungsschlacht zwischen Orient und Okzident in der deutschen Erinnerungskultur. Erzählweisen, die hauptsächlich eine Abfolge kriegerischer Ereignisse zu einem Gesamtbild verketten, heben Dissonanzen und Feindseligkeiten zwischen den Kulturen hervor und kultivieren damit die Vorstellung eines konfliktreichen Verhältnisses – so auch in manchen Darstellungen zur Geschichte des Islams im Verhältnis zu Deutschland.
53
Ausschnitt des Gemäldes „Bataille de Poitiers“ von Charles de Streuben, das die Schlacht von Poitiers zeigen soll.
Dem stehen geschichtliche Darstellungen gegenüber, die vordergründig auf bereichernde Aspekte einer Wissenskultur und des Wissenstransfers über den muslimisch geprägten Raum hin nach Europa verweisen. Bei der Beschreibung muslimischer Fortschritte in der Medizin, deren Werke in der Mathematik und einer entsprechenden Gelehrsamkeit, wie auch der Weiterführung der Philosophie und anderer Geistes- sowie Naturwissenschaften entsteht in den Narrativen so das Bild einer Geschichte fruchtbaren Wissensaustauschs mit Muslim*innen.
54
Der muslimische Mathematiker und Erfinder der Algebra Al-Chwarizmi auf einer sowjetischen Briefmarke von 1983.
Das schärfste Erzählbild zum Islam in Deutschland erzeugen Narrative, die unmittelbar nach Spuren des Aufenthalts von Menschen muslimischen Glaubens, ihres Lebens und ihrer Glaubenspflege auf deutschem Gebiet blicken. Über diesen Fokus werden religiöse Gemeindebildungen oder individuelle Lebensgeschichten von Muslim*innen illustriert und zu einer Erzählung zusammengeführt. In den vergangenen Jahren sind mit einer Reihe von Forschungsarbeiten zur Rolle von Muslim*innen in und zwischen den beiden Weltkriegen die Erkenntnisse zur Gegenwart von Muslim*innen in zu Beginn des 20. Jahrhunderts erheblich gewachsen.
Was ist das Islamische an der Geschichte des Islams?
Sofern der Islam und Muslim*innen den Gegenstand einer geschichtlichen Darstellung bilden sollen, wären Aspekte in der Geschichtsschreibung dazu kritisch dahingehend zu prüfen, inwieweit sie das Religiöse aufgreifen und beinhalten. Insofern wäre zu fragen, inwieweit es sinnvoll ist, über rein profane, also nichtreligiöse Vorgänge und Sachbestände, eine Erzählung als „Geschichte des Islams“ in Deutschland zu präsentieren? Auch wenn das Religiöse, das Islamische oder aber auch das Christliche, bei Begegnungen, Austausch oder Konflikten zwischen den als deutsch und islamisch bezeichneten Ländern oder ihren Bewohnern oft nicht im Vordergrund stand, so manifestierte es sich doch dadurch, dass ihre jeweilige Kultur und Lebensart mehr oder weniger von religiösen Werten und Prägungen durchdrungen waren. Auch wird in ihren Schriften oder in der Kunst häufig darauf verwiesen. Dennoch gilt für die Artefakte oder Ereignisse im Einzelnen zu prüfen, ob sie einen zureichenden religiösen Gehalt oder Bezugnahmen aufweisen, um als tragende Bestandteile einer historischen Erzählung zu „Islam und Muslim*innen “ gelten zu können.
55
Im frühen Mittelalter brachten Araber den Spinat nach Spanien, von wo aus er den Weg nach Deutschland fand. Die Abbildung zeigt die Spinat-Ernte und stammt aus dem „Tacuinum sanitatis (in medicina)“, eine Art Gesundheitslexikon und Übersetzung des arabischen Originals „Taqwim as-sihha“ des Mediziners Ibn Butlan.
Wie die meisten Erzählungen schreibt sich somit eine auf Deutschland bezogene Geschichte des Islams über eine narrative Verkettung von wechselhaften Szenarien in der Spannbreite von Anfeindungen und Kriegen einerseits bis hin zu Bündnissen und Zeiten friedlichen Miteinanders andererseits. Schnappschüsse aus verschiedenen historischen Ereignissen, sowie von Gesichtern, künstlerischen Werken und Artefakten repräsentieren jeweils kleine Episoden dieser Geschichte und zeugen von einer reichhaltigen deutsch-muslimischen Vergangenheit.
Historische Rückblende
Lange Zeit herrschte hierzulande die Vorstellung vor, dass Muslim*innen erst mit der Zeit der Gastarbeiterimmigration der 1960er-Jahre nach Deutschland gelangt seien. Entsprechend war die Geschichte des Islams in Deutschland daher einige Zeit überwiegend mit der türkischen Immigration verknüpft. Doch die zunehmende Beheimatung der muslimischen Bevölkerung in Deutschland und das alltägliche Zusammenleben haben den Weg zu neuen Wahrnehmungsperspektiven auf Islam und Muslim*innen in der Geschichte und Gegenwart Deutschlands bereitet. Mit derart geweiteter Perspektive sind außerdem zunehmend wissenschaftliche Erkenntnisse zu Islam und Muslimen*innen gewonnen worden. Sie finden mittlerweile verstärkten Eingang in die deutsche Öffentlichkeit.
Um die Geschichte von Islam und Muslimen*innen in Deutschland hinreichend abzubilden, muss der Blick viel weiter zurück gerichtet werden als hin zur Zeit der Gastarbeiterimmigration der 1960er Jahre.
Wann beginnt die Geschichte des Islams und von Muslim*innen in Deutschland?
Die Geschichte des Islams in deutschen Herrschaftsgebieten beginnt später als die in Südeuropa. Spuren intensiver Interaktionen in den südlichen Nachbarräumen gingen jedoch nicht unbemerkt an Deutschland vorbei – wie etwa die Eroberung des Westgotenreichs im 8. Jahrhundert oder später die Belagerung Wiens durch die Türken im 17. Jahrhundert. Zwar sind durchaus einzelne direkte Berührungspunkte zwischen Deutschen und Muslimen für das frühe Mittelalter, insbesondere für die Zeit unter Karl den Großen, erfasst und historisch dokumentiert. Dennoch sind im Vergleich zu Italien, Spanien oder Frankreich nachhaltige und unmittelbare Begegnungen und Austauschbeziehungen erst vergleichsweise spät erwachsen.
Der Beginn nachhaltiger Wechselbezüge und unmittelbarer Kontakte zwischen Menschen auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands und aus muslimisch geprägten Herrschaftsregionen lässt sich nicht mit einem konkreten Datum versehen. Historisch nachgewiesene Beispiele für erste Begegnungen finden sich bereits für das Frühmittelalter.
52
Die Schlacht um Wien, gemalt von einem anonymen Künstler, ausgestellt im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien.
Anstatt nach einem definitiven Anfangspunkt für eine Historie des Islams in Deutschland zu suchen und diesen fest markieren zu wollen, wird hier über Bild- und Audiomaterialien auf vielfältige Spuren verwiesen. Zusammengenommen dokumentieren sie historische Verflechtungen, wie feindliche Zusammenstöße, friedliche Begegnungen oder wechselseitige Einflüsse auf verschiedenen Ebenen und belegen damit eine vielförmige und reichhaltige deutsch-muslimische Vergangenheit.
Was sind wesentliche Komponenten einer Geschichte des Islams in Deutschland?
Eine Spurensuche lässt sich grundsätzlich über zwei verschiedene Betrachtungsfelder vollziehen.
Konzentriert man sich in der Nacherzählung der Geschichte abstrakt auf den Islam als einer Weltreligion, so lassen sich sehr früh Einflüsse des Islams in Deutschland nachweisen und zeitlich datieren: etwa über wissenschaftliche Bestände, künstlerische Artefakte, architektonische Bauten oder poetische Schriften und sprachliche Begriffe. Ein anderer Zugang zur Erzählung einer muslimischen Geschichte bildet sich aus, sofern menschliche Interaktionen in den Vordergrund gerückt werden, wie länderüberschreitende Wechselbezüge, etwa in Form von Diplomatie, Kriegen und Reisen, oder aber sofern die muslimische Präsenz in Deutschland konkret nachgezeichnet wird. Eine umfassende Geschichtserzählung setzt sich aus beiden Zugängen zusammen, wobei sich die Frage stellt, welche Momente und Aspekte in der jeweiligen Erzählung wie gewichtet werden.
Die Geschichte des Islams in Deutschland und Europa wird in den Geschichtsbüchern besonders im Kontext kriegerischer Expansionsbewegungen muslimischer Herrscher nach Europa erzählt.
53
Ausschnitt des Gemäldes „Bataille de Poitiers“ von Charles de Streuben, das die Schlacht von Poitiers zeigen soll.
Ein hervorgehobenes Ereignis bildet in den Geschichtsbüchern insbesondere die Schlacht bei Tours und Poitiers, 732 n.Ch., zwischen Franken und muslimischen Sarazenen. Sie gilt als Entscheidungsschlacht zwischen Orient und Okzident in der deutschen Erinnerungskultur. Erzählweisen, die hauptsächlich eine Abfolge kriegerischer Ereignisse zu einem Gesamtbild verketten, heben Dissonanzen und Feindseligkeiten zwischen den Kulturen hervor und kultivieren damit die Vorstellung eines konfliktreichen Verhältnisses – so auch in manchen Darstellungen zur Geschichte des Islams im Verhältnis zu Deutschland.
Dem stehen geschichtliche Darstellungen gegenüber, die vordergründig auf bereichernde Aspekte einer Wissenskultur und des Wissenstransfers über den muslimisch geprägten Raum hin nach Europa verweisen. Bei der Beschreibung muslimischer Fortschritte in der Medizin, deren Werke in der Mathematik und einer entsprechenden Gelehrsamkeit, wie auch der Weiterführung der Philosophie und anderer Geistes- sowie Naturwissenschaften entsteht in den Narrativen so das Bild einer Geschichte fruchtbaren Wissensaustauschs mit Muslim*innen.
Das schärfste Erzählbild zum Islam in Deutschland erzeugen Narrative, die unmittelbar nach Spuren des Aufenthalts von Menschen muslimischen Glaubens, ihres Lebens und ihrer Glaubenspflege auf deutschem Gebiet blicken. Über diesen Fokus werden religiöse Gemeindebildungen oder individuelle Lebensgeschichten von Muslim*innen illustriert und zu einer Erzählung zusammengeführt. In den vergangenen Jahren sind mit einer Reihe von Forschungsarbeiten zur Rolle von Muslim*innen in und zwischen den beiden Weltkriegen die Erkenntnisse zur Gegenwart von Muslim*innen in zu Beginn des 20. Jahrhunderts erheblich gewachsen.
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Der muslimische Mathematiker und Erfinder der Algebra Al-Chwarizmi auf einer sowjetischen Briefmarke von 1983.
Was ist das Islamische an der Geschichte des Islams?
Sofern der Islam und Muslim*innen den Gegenstand einer geschichtlichen Darstellung bilden sollen, wären Aspekte in der Geschichtsschreibung dazu kritisch dahingehend zu prüfen, inwieweit sie das Religiöse aufgreifen und beinhalten. Insofern wäre zu fragen, inwieweit es sinnvoll ist, über rein profane, also nichtreligiöse Vorgänge und Sachbestände, eine Erzählung als „Geschichte des Islams“ in Deutschland zu präsentieren? Auch wenn das Religiöse, das Islamische oder aber auch das Christliche, bei Begegnungen, Austausch oder Konflikten zwischen den als deutsch und islamisch bezeichneten Ländern oder ihren Bewohnern oft nicht im Vordergrund stand, so manifestierte es sich doch dadurch, dass ihre jeweilige Kultur und Lebensart mehr oder weniger von religiösen Werten und Prägungen durchdrungen waren. Auch wird in ihren Schriften oder in der Kunst häufig darauf verwiesen. Dennoch gilt für die Artefakte oder Ereignisse im Einzelnen zu prüfen, ob sie einen zureichenden religiösen Gehalt oder Bezugnahmen aufweisen, um als tragende Bestandteile einer historischen Erzählung zu „Islam und Muslim*innen “ gelten zu können.
Wie die meisten Erzählungen schreibt sich somit eine auf Deutschland bezogene Geschichte des Islams über eine narrative Verkettung von wechselhaften Szenarien in der Spannbreite von Anfeindungen und Kriegen einerseits bis hin zu Bündnissen und Zeiten friedlichen Miteinanders andererseits. Schnappschüsse aus verschiedenen historischen Ereignissen, sowie von Gesichtern, künstlerischen Werken und Artefakten repräsentieren jeweils kleine Episoden dieser Geschichte und zeugen von einer reichhaltigen deutsch-muslimischen Vergangenheit.
55
Im frühen Mittelalter brachten Araber den Spinat nach Spanien, von wo aus er den Weg nach Deutschland fand. Die Abbildung zeigt die Spinat-Ernte und stammt aus dem „Tacuinum sanitatis (in medicina)“, eine Art Gesundheitslexikon und Übersetzung des arabischen Originals „Taqwim as-sihha“ des Mediziners Ibn Butlan.